Während der Chemotherapie durch Vivaldis „Die vier Jahreszeiten“ schlendern. Mit Virtual Reality.

Wir setzen unsere 3D-Brille auf und wählen die Jahreszeit. Im Hintergrund hören wir Vögel zwitschern, und die Musik setzt ein. Wir spazieren eine Allee entlang – man könnte meinen, es seien Kirschbäume –, während rosa Blütenblätter in der Luft tanzen (Frühling). Oder wir lassen uns vom Zirpen der Zikaden auf einem kargen Pfad wiegen, der zum Meer führt, wo uns ein kleines Boot und Möwen erwarten (Sommer). Die roten Blätter eines Waldes führen uns zu einem Aussichtspunkt mit Blick auf einen ruhigen See, von dem aus wir die Spiegelung der Berge in der Ferne betrachten können (Herbst). Der Himmel ist noch klar, doch die Landschaft erinnert nun an den hohen Norden. Überall liegt Schnee, und die Straße führt zu einem Haus, das von warmem Licht erhellt wird, während sich über dem Pier der Abend senkt (Winter).
Ein Spaziergang durch Vivaldis Vier JahreszeitenWir befinden uns in „Die vier Jahreszeiten“, begleitet von Vivaldis berühmter Musik. Ein Virtual-Reality-Projekt speziell für Krebspatienten, das Patienten helfen soll, ihre onkologischen Infusionen anders zu verbringen, bringt uns hierher. „Wir haben es Distraction Therapy genannt, weil genau das sein Zweck ist: Patienten für eine Weile an einen angenehmen Ort zu bringen, zumindest mental, während sie physisch auf den Chemotherapie-Stühlen sitzen“, erklärt Marina La Norcia , Präsidentin von Noicisiamo – MBC Italia Metastatic Breast Cancer, dem Verein, der das Projekt konzipiert und erstellt hat, einschließlich der Originalinhalte.
Bisher hat Noicisiamo hochmoderne 3D-Videos und Viewer an sechs onkologische Abteilungen gespendet: das Nationale Krebsinstitut (IRCCS) „Fondazione G. Pascale“ in Neapel, das Regionalkrankenhaus Umberto Parini in Aosta, das Romagna-Institut für Tumorforschung „Dino Amadori“ (IRST IRCCS), das Presidio Unico Ospedaliero der ASL3 in Genua, die IRCCS San Martino Poliklinik in Genua und erst kürzlich das Krankenhaus ASL1 Imperia. „Die Distraktionstherapie soll Teil eines integrierten Behandlungsansatzes sein“, fährt La Norcia fort. „Doch so wichtig Technologie auch ist, allein reicht sie nicht aus. Deshalb haben wir uns auf die Inhalte konzentriert, die dank einer Förderung durch die Roche Foundation für Patienten erstellt wurden und darauf ausgelegt sind, die Aufmerksamkeit zu fesseln und sie durch Bilder, Musik und Worte auf positive Reize zu lenken.“
Ein Moment der Flucht aus dem KrankenhauskontextDas bisherige Feedback der Anwender ist positiv und bestätigt, dass Patienten der Krankenhausumgebung sowohl visuell als auch akustisch entfliehen können. Darüber hinaus haben mehrere Studien bereits gezeigt, dass Virtual-Reality-Erlebnisse eingesetzt werden können, um negative Emotionen, Schmerzen und Ängste während Chemotherapie-Infusionen zu lindern und so psychische Belastungen zu reduzieren. „Das Erlebnis war sensationell“, sagte Sara (Name geändert), eine Patientin, die die Headsets während der Spendenzeremonie im Imperia Local Health Authority (ASL1) im Imperiaware Digital Center von Confindustria Imperia testete. „Ich wusste nicht, dass ich meine Gedanken so weit weg transportieren kann, an einfach wunderschöne Orte, wo Zeit und Schmerz keine Rolle spielen und die Gedanken schweben, was mir ein Gefühl von Frieden und Ruhe gibt.“
Lenken Sie sich vom Schmerz abDie Zeitwahrnehmung ist genau einer der Schlüsselfaktoren der Distraktionstherapie, wie Andrea Chirico , Mitglied der International Psycho-Oncology Society und außerordentlicher Professor für Psychoonkologie in der Abteilung für Entwicklungs- und Sozialpsychologie der Fakultät für Medizin und Psychologie der Sapienza-Universität in Rom, erklärt. Er erforscht seit Jahren die Anwendung von Virtual Reality (VR) im Gesundheitswesen und hat die Inhalte betreut. „Laut einigen Theorien der Neurowissenschaften und Psychologie verbraucht das Erleben von Stress und Schmerzen Gehirnenergie. Diese Energie ist jedoch nicht unbegrenzt. Wenn wir sie anderswohin lenken können, können wir Schmerzen, Stress und sogar die in diesen Situationen verbrachte Zeit anders wahrnehmen. So entstand vor etwa 15 Jahren die ursprüngliche Idee, ein rein ablenkendes VR-Szenario zu entwickeln. Dank der Weitsicht von Professor Antonio Giordano, Präsident der Sbarro Health Research Organization, führten wir die ersten Studien in den USA an der Temple University in Philadelphia durch.“
Die Macht der Musik und der BilderInsbesondere, so Chirico weiter, sei die Therapie in einer Tagesklinik eine stressige Zeit, die negative Gedanken begünstigen könne, beispielsweise über das Stigma von Medikamenten, die oft als etwas „Schlechtes“ und nicht als Heilmittel angesehen werden. Er stimmt zu, dass die Art des in der VR reproduzierten Szenarios einen Unterschied mache. Technologie könne zwar Spaß machen, sei aber nicht motivierend: Es seien spezifische Sinnesreize nötig. Auch im Bereich der Musik seien die psychologischen Auswirkungen von Akkordfolgen und Melodien bekannt. Vereinfacht gesagt: Es sei eine gängige Erfahrung, Musik zu hören, um sich besser zu fühlen und die Stimmung zu verbessern.
Wie sich die Wahrnehmung von Zeit verändertChirico und Kollegen führten anschließend Studien durch, um verschiedene Settings zu testen. „Eines der Ergebnisse, das uns am meisten beeindruckte, war die veränderte Zeitwahrnehmung. Wir testeten ein 15-minütiges VR-Erlebnis: Die Patienten der Versuchsgruppe empfanden im Durchschnitt 7–8 Minuten als vergangen, während die Kontrollgruppe 20 Minuten empfand. Dasselbe geschah auch, wenn die Kontrollgruppe einer angenehmen, aber weniger ansprechenden Tätigkeit nachging, wie beispielsweise allein Musik hören.“ Für das von Noicisiamo entwickelte Projekt, betont er, wurde ein sehr bekanntes und schönes Musikstück ausgewählt, das im Kopf sehr präzise nachhallt und bestimmte emotionale Zustände auslöst. Es ist nicht nur eine Ablenkung. Die Nutzer können aus vier Clips wählen, je nachdem, womit sie sich im jeweiligen Moment am meisten verbunden fühlen.
Von Achtsamkeit zum Konzept der SelbstwirksamkeitDie Experimente enden hier nicht. Gemeinsam mit dem Sant'Andrea-Krankenhaus in Rom testet Chirico ein echtes VR-Achtsamkeitserlebnis, das noch effektiver sein soll als reine Ablenkung. Andere Studien basieren auf dem Konzept der Selbstwirksamkeit: Menschen können virtuell eine Erfahrung erleben, die sie später möglicherweise persönlich erleben müssen. Menschen glauben, einer bestimmten Herausforderung gewachsen zu sein, vor allem dank dreier Motivationen: vorheriger Erfahrung, d. h., die gleiche Situation bereits erlebt zu haben; stellvertretender Erfahrung, d. h., andere dabei zu sehen; und Überzeugungskraft, die durch Worte oder emotionale Zustände funktioniert. Mit VR können wir sowohl stellvertretende als auch vorherige Erfahrungen nachbilden. Ein einfaches, aber wirkungsvolles Beispiel: körperliche Veränderungen. Eine Frau während einer Chemotherapie kann sich ohne Haare im Spiegel sehen und sich in einer beruhigenden, virtuellen Umgebung mit ihrem Bild vertraut machen. Sobald die Brille abgesetzt wird, bleibt die Erfahrung jedoch bestehen. In gewisser Weise ist das Beängstigende dann bereits überwunden. In einem weiteren Forschungsprojekt mit Gebärenden wird die Möglichkeit untersucht, Reize anhand spezifischer physiologischer Signale, wie etwa der fetalen Herzfrequenz und den Wehenschmerzen, an die Schmerzintensität anzupassen.
Personalisieren Sie ErlebnisseAuch in diesem Bereich ist ein multidisziplinärer Ansatz entscheidend: „Um Technologie in die Gesundheitsversorgung zu integrieren, ist ein Austausch zwischen Psychologen, Ärzten, Informatikern, Designern und Musikern notwendig“, so der Experte abschließend. „Wir wissen auch, dass nicht jeder gleich reagiert oder gleich von VR profitiert. Vieles hängt von den individuellen Eigenschaften ab: Manche bevorzugen es, ständig mit der Realität in Kontakt zu bleiben, eine Haltung, die möglicherweise von einem Kontrollbedürfnis geprägt ist. Daher wird es sehr interessant sein, das Erlebnis individuell gestalten zu können, um die Wirksamkeit zu maximieren und den psychischen Stress zu minimieren.“
repubblica